Callcenter von BFREE in Nigeria
Julian Flosbach empfängt uns gekleidet in einem traditionellen nigerianischen Anzug, der die lebhafte Stimmung des benachbarten Callcenters in einem Bürokomplex in Nigerias Wirtschaftsmetropole Lagos widerspiegelt. Ursprünglich aus dem Bergischen Land stammend, verbrachte der 33 Jahre alte Unternehmer mehrere Jahre als Investmentbanker in Frankfurt, bevor er sich für einen Richtungswechsel entschloss.
Nach mehreren Jahren als Geschäftsführer bei der führenden nigerianischen Direktbank FairMoney, die mittlerweile über 5 Millionen Nigerianern Kleinkredite und Bankdienstleistungen bereitstellt, gründete Julian Flosbach mit Partnern BFREE. Dieses Fintech-Unternehmen beschäftigt mittlerweile mehr als 150 Mitarbeiter und hat sich auf die Automatisierung von Prozessen im Forderungsmanagement für Banken spezialisiert. Im Interview erläutert Flosbach sein Geschäftsmodell und zudem seine Überlegungen, warum er das deutsche Engagement in Afrika kritisch betrachtet.
Kaum Risikokapital aus Deutschland
Herr Flosbach, in Nigeria gibt es eine lebendige Start-up-Szene. Sind Sie ein Beispiel dafür, dass Deutschland dabei ordentlich mitmischt?
Leider sind wir absolut kein Beispiel dafür. Deutsche Investoren scheinen die Technologierevolution auf dem afrikanischen Kontinent eher zu verschlafen. Abgesehen von sporadischen Investments durch die DEG - Deutsche Investitions- und Entwicklungsgesellschaft mbH ist, nach großen politischen Versprechen, leider wenig wirklich bei uns ‘on the ground’ angekommen. An sieben sogenannten ‘Unicorns’ in Afrika, also Unternehmen, die mit mehr als 1 Milliarde US-Dollar bewertet werden, ist meines Wissens kein einziger deutscher Investor beteiligt.
Woher haben Sie das Geld zum Gründen dann bekommen?
Neben dem Kapital, das wir Gründer selbst eingebracht haben, erhielten wir insgesamt 4 Millionen US-Dollar an Risikokapital. Davon kamen lediglich 100.000 Dollar von einem privaten Angel-Investor aus Deutschland. Der Rest kam vor allem von afrikanischen, amerikanischen und andere europäischen Venture-Capital-(VC) Fonds.
Sind andere europäische Nationen also aktiver mit Risikokapital in Afrika unterwegs?
Ja, vor allem die Franzosen. Afrikas größer VC-Fonds, Partech, sitzt in Paris. Auch Frankreichs staatliche Entwicklungsbank Proparco ist auf dem Kontinent bei VC sehr agil. Ähnlich ist das bei Private-Equity-Fonds, da kommt aus Deutschland fast gar nichts. In der Richtung gibt es in Afrika nur CommerzVentures, den Fintech-Fonds der Commerzbank, der gerade erste Investments in Afrika gemacht hat.
Inkassoprozesse mit künstlicher Intelligenz (KI)
Was macht Ihre Firma eigentlich genau?
Im Prinzip sind wir ein digitaler Inkassodienstleister: Wir helfen nigerianischen Banken, ausstehende Forderungen aus Kleinkrediten kundenfreundlich wieder zurückzubekommen. Traditionelle Anbieter haben das vor allem durch Druck auf den Kunden gemacht, bei uns ist das anders. Wir sammeln Daten über Kunden, können dann durch unsere hauseigenen KI-Algorithmen mit hoher Wahrscheinlichkeit den Grund für den Kreditausfall bestimmen und schließlich den Kunden direkt die passende Rückzahlungsmöglichkeit anbieten. Das spart Zeit und ist für die Kunden eine deutlich bessere Erfahrung.
Bei den Kreditausfällen geht es um eine Vielzahl kleiner Beträge?
Das ist genau der Punkt. Es geht inzwischen um Millionen von Darlehen, die jeweils 5 bis 3.000 Dollar umfassen, im Durchschnitt 78 Dollar. Es sind die typischen Kleinkredite an den Tomatenverkäufer, die Schneiderin oder für das Schulgeld.
Wer vergibt diese vielen Kleinkredite?
Die Banken. In Nigeria sind starke Onlinebanken entstanden, die das Geschäft anonymisiert und auch demokratisiert haben. Heute hat praktisch jeder erwachsene Nigerianer ein Konto eingerichtet. Fintech hat dies seit 2015 viel einfacher und billiger gemacht. Im Ergebnis verleihen zum Beispiel Banker in der Wirtschaftsmetropole Lagos Geld an einen Bauern irgendwo in Nordnigeria, den sie nie gesehen haben und der davor nie im Leben einen Kredit bekommen hätte.
Individuelles Forderungsmanagement vermeidet Ausfälle
Wie viele von diesen Kleinkrediten fallen aus?
10 Prozent. Die bekommen die Banken auch kaum wieder herein. Anders als in Deutschland fehlt dafür der Rahmen: Es fehlt eine effiziente Schufa mit Informationen über Kreditnehmer, Pfändungen lassen sich de facto nicht durchsetzen und auf einen Gerichtstermin muss man fünf Jahre warten. Die Frage ist: Wie macht man da ein Forderungsmanagement?
Wie versuchen die Banken also, ihr Geld zurückzubekommen?
Sie schicken den Kunden zunächst standardisierte Nachrichten, zum Beispiel jede Woche eine SMS. Die wird mit der Zeit schärfer im Ton, später kommen Anrufe aus dem Callcenter. Für die Bank ist das aufwändig und wenig erfolgversprechend, für den säumigen Schuldner stressig.
Und wie machen Sie das?
Man kann den Kunden wegen des fehlenden Rahmens hier nicht zur Rückzahlung zwingen. Also muss man ihn überzeugen, dass er es freiwillig tut. Standardisierte, nervige Anrufe helfen da wenig. Wir behandeln den Kunden genau auf sein Profil hin. So wollen 72 Prozent unserer Kunden nach unseren Daten eigentlich zahlen, sie können es nur nicht - aufgrund von Krankheit, Jobverlust oder weil das Geschäft nicht läuft. Wir erinnern oder drohen bei unserer Ansprache dann nicht stumpf, sondern schlagen Alternativen vor: Ok, du kannst gerade nicht zahlen - verschieben wir das um zwei Wochen und starten dann mit 10 statt 30 Dollar?
Detaillierte Kundenprofile für passgenaue Angebote
Sie müssen den Kunden also kennen und ihm etwas Passendes vorschlagen. Woher haben Sie all die Informationen dafür?
Von der App der Bank, die der Kunde bei Abschluss des Kreditvertrags auf dem Handy installieren muss. Diese App gibt der Bank - und später auch uns - ein sehr detailliertes Profil des Kunden und dessen Finanzgebaren. Bei vielen Sportwetten-Apps auf dem Kundenhandy zum Beispiel ist Vorsicht angesagt. Mit den Daten aus der App erstellen wir ein Kundenprofil, auf deren Basis wir Alternativen für die Rückzahlung anbieten. Vor Installation der App muss der Kunde übrigens einer Art nigerianischer Datenschutz-Grundverordnung zustimmen, nur 0,5 Prozent lehnen die ab. Die Daten der App bekommen wir von der Bank in langen Listen oder, besser, direkt im digitalen Austausch.
Jetzt müssen aber Sie den Kunden nachrennen und dafür Callcenter einrichten, oder?
In unserem Callcenter nebenan haben wir derzeit tatsächlich gut 100 Mitarbeiter. Allerdings müssten die Banken für die gleiche Aufgabe über 1.200 Leute beschäftigen. Wir haben hier die Kundenansprache nämlich weitgehend automatisiert. Die individualisierten Textnachrichten gehen voll automatisiert raus. Später, wenn Fragen entstehen, tauscht sich der Kunde mit einem Chatbot aus - über WhatsApp, Instagram, Telegram und die ganzen anderen Plattformen. Selbst Telefonate im folgenden Schritt laufen über einen Chatbot. Schon heute glaubt der Kunde dabei oft, mit einem Menschen zu sprechen; diese Technik entwickeln wir ständig weiter. Erst, wenn es dann nicht mehr weitergeht, greifen die Kollegen drüben zum Hörer.
Und das funktioniert?
Und wie. Wir holen bis zu 70 Prozent mehr der ausgefallenen Forderungen zurück als die Banken selbst, dies innerhalb von zwei bis drei Jahren. Unser Umsatz wächst jährlich um 100 bis 150 Prozent und wir sind mittlerweile der einzige Player in unserer Branche, der mit fast allen traditionellen Banken sowie Digitalbanken zusammenarbeitet. Seit unserer Gründung vor drei Jahren haben wir über 4 Millionen Forderungsfälle bearbeitet, von denen fast 1 Million erfolgreich zurückgezahlt wurde. Und auch die Kunden sind zufrieden, 95 Prozent bewerten uns mit gut oder exzellent.
Ankauf von offenen Forderungen
Erhalten Sie dann von den Banken eine Provision?
Das ist die eine Variante unseres Geschäfts. Bei der anderen kaufen wir den Banken deren Forderungen ab, für einen Bruchteil des Nennwerts der Forderung. Inzwischen haben wir ein Forderungsportfolio von 150 Millionen Dollar bei beiden Geschäftsmodellen zusammen.
Sind Sie die einzigen, die das so machen?
In Afrika meines Wissens ja. In Europa gibt es ähnliche Ansätze, in Deutschland zum Beispiel durch die Firma Troy GmbH. Wir orientieren uns allerdings stärker an Indien. Die sind bei dem Thema voraus, der größte Dienstleister dort wird mit über 1 Milliarde Dollar bewertet.
Was für Leute arbeiten eigentlich in Ihrem Callcenter?
Alle Kollegen haben einen Bachelor-Abschluss, viele auch einen Master. Wir bedienen in fünf Sprachen, Englisch, Pidgin - einem nigerianischen Dialekt - sowie Yoruba, Haussa und Igbo, den anderen Hauptsprachen in Nigeria. Die Mitarbeiter im Callcenter verdienen im Monat 160.000 Naira, das sind knapp 200 Dollar. Die Banken allerdings zahlen in ihren Callcentern kaum 50.000, der Mindestlohn liegt bei 32.000 Naira.
Das Interview führte Ulrich Binkert von Germany Trade & Invest im August 2023.
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